VIA EGNATIA

Aus: Süddeutsche Zeitung  2.7.13

Der U-Bahn-Bau in Thessaloniki hat antike Anlagen an der berühmten Via Egnatia freigelegt, die griechische Archäologen ins Schwärmen bringen. Für die Erbauer der U-Bahn ist der Baustopp eine kleine Katastrophe. Nun wird gestritten, wie es weitergehen soll.
 
Von Christiane Schlötzer

Mitten in der griechischen Stadt Thessaloniki dort, wo sich alles zusammendrängt, ist dieses Loch. Sechs Meter tief, 77 Meter lang. Eine tiefe Rinne, wo eigentlich längst wieder der Verkehr fließen sollte. Schließlich ist das hier nicht irgendeine Kreuzung in Griechenlands zweitgrößter Stadt, sondern der Schnittpunkt zweier Verkehrsachsen: der vom Hafen aufsteigenden Venizelou Eleftheriou mit der zentralen Egnatia-Straße.
Oft bleiben Leute stehen und schauen in das Nichts, durch eine der Lücken im Bauzaun. Sie versuchen dann in dem Gewirr aus mächtigen Säulen und dicken Rohren, Ziegelmäuerchen und Marmorplatten eine Erklärung dafür zu finden, warum sich das Loch nicht wieder schließt - und der Bau der U-Bahn von Thessaloniki nun schon seit Monaten nicht vorankommt.
Aber was sind schon Monate und selbst Jahre im Angesicht der Jahrtausende, die hier unter der Straßenoberfläche ruhen. "Wir blicken direkt in die Spätantike", sagt Konstantinos Platis, Hobbyhistoriker und im Hauptberuf Arzt. Platis deutet in den Abgrund: "Das ist unser Alltag vor 1300 Jahren, das dürfen wir nicht zerstören."
Es war der U-Bahn-Bau, der enthüllt hat, wie nah sich Vergangenheit und Gegenwart in Griechenland sein können. Nur sechs Meter unter dem Straßenbelag der modernen Egnatia-Straße stießen die Bagger auf die historische Via Egnatia, die einst West und Ost, Adria und Bosporus, Rom und Istanbul, das einstige Byzanz, verband - genauso wie ihr modernes Gegenstück, die Egnatia Odos, die Autobahn A 2, ein von der EU mitfinanzierter 670 Kilometer langer Schnellweg zwischen Ionischer Küste und türkischer Grenze. Thessaloniki war und ist eine der wichtigsten Stationen auf dieser Strecke mit historischer Dimension.
Den Erbauern der U-Bahn kommt dies eher ungelegen. Schon länger geht an der zur Schaustelle mutierten Baustelle nichts voran. Der Blick durch Zaun und Plastikplanen lässt ahnen, wie viele archäologische Schätze hier noch auf Entdeckung warten.
Mamorplatten, Fundamente, Säulen, Kanäle
Allein das Sichtbare ist bereits eine Sensation: Die Marmorplatten des Belages der antiken Egnatia, die Fundamente kleiner Läden oder Handwerkerstuben, Säulen, Kanäle, ein großes Gebäude an einem Platz, genau unter der Straßenkreuzung. "Da gibt es Reste von Arsen, das antike Goldschmiede verwendet haben, und oben auf der heutigen Egnatia haben wir auch Schmuckläden", sagt die Journalistin Kaki Bali.
Die Griechin ist begeistert von den Funden in ihrer Stadt, seit sie mit Experten einen Spaziergang über die historische Egnatia unternehmen durfte. Gewöhnlich wird dies von den Bauherrn nicht gestattet, womöglich weil sie nicht noch mehr Aufhebens machen wollen. "Man muss sich nur mal vorstellen, auf dieser Straße liefen die Kreuzritter, und auch die Pest nahm diesen Weg", sagt Bali.
Die Egnatia, das war die Fortsetzung der römischen Via Appia. Ihr Name sollte den römischen Statthalter Gnaeus Egnatius ehren, der den Bauauftrag für diese Straße gab. Der Historiker Strabon (gestorben im Jahr 23 nach Christus) schrieb, dass die Römer für diese Straße Berge durchschnitten und Hügel begradigten - damit in den Pferdewägen das Reisen leichter fiel. Cicero nutze den Weg, um nach Thessaloniki zu gelangen, ebenso der Apostel Paulus. Bis ins 16. Jahrhundert reisten auf der Egnatia Heere und Händler, Bettler und Banditen, osmanische Steuereintreiber, Griechen, Vlachen, Pomaken, Türken, Slawen, Venetianer und Ägypter. Und alle hinterließen ihre Spuren.


Alles abtragen und an den Stadtrand transportieren?

Jetzt sind die Archäologen von den Funden begeistert, sie sprechen von wichtigen Erkenntnissen auch über die Geografie der Stadt Thessaloniki. Die griechische Antikenverwaltung mit Sitz in Athen jedoch ist weniger enthusiastisch. Sie hat schon vor einer Weile entschieden, was zu tun sei: alles abtragen und an den Stadtrand transportieren.

Auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne sollten die Funde wieder aufgebaut werden. "Wenn wir das tun, dann können wir auch alles an das Getty Museum in Malibu verkaufen", sagt Michalis Lychounas, Archäologe aus der nordgriechischen Stadt Kavala, der mit Gleichgesinnten eine Internet-Petition zum Verbleib der Egnatia-Antiken an ihrem Platz gestartet hat. Die Petition hat in viereinhalb Monaten 12 254 Unterstützer gefunden. Sie richtet sich an den griechischen Präsidenten, den Premier, das griechische und das Europäische Parlament - und die Unesco. "Würde man den Eiffelturm oder Big Ben von ihrem Platz entfernen?", heißt es in der Petition. Lychounas warnt davor, europäisches Erbe zu zerstören.

Immerhin haben die Egnatia-Freunde nun auch die Ingenieurkammer von Thessaloniki auf ihrer Seite. Deren Experten schlagen vor, die Stücke für den U-Bahn-Bau zu entfernen, aber dann wieder auf die Strecke zu legen und als archäologisches Monument öffentlich zugänglich zu machen. Die erforderlichen technischen Veränderungen seien zu bewältigen. Für die Puristen unter den Archäologen wäre auch das ein Frevel. Doch Lychounas und andere sehen darin einen guten Kompromiss.

Auch der parteilose Bürgermeister von Thessaloniki, Giannis Boutaris, hat sich auf die Seite der Egnatia-Schützer geschlagen und sogar einen Gerichtsprozess angestrengt. Nun hat sich der U-Bahn-Bau in Thessaloniki schon mehrfach verzögert und auch verteuert. Von Anfang an gab es Zweifel an dem gesamten Projekt. Die griechische Finanzkrise hat auch nicht geholfen, es voranzubringen. Eine Baufirma hat schon Pleite gemacht. Die Neue will nun schnell weiterbauen. Die Krise sorgt zudem dafür, dass sich staatlich besoldete Archäologen mit wenigen Ausnahmen aus Angst um ihre Jobs kaum noch äußern.

Lychounas aber will nicht schweigen. "Athen hat die Akropolis, wir haben unsere Schätze", sagt er. Offiziell gilt immer noch der Beschluss des staatlichen Antikenrats, alles abzutragen. An diesem Dienstag tagt der Rat wieder. "Vielleicht ändert sich ja doch etwas", hofft Lychounas.


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